Fachgebiet Sportwissenschaft

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In Erinnerung an Professor Hermann Salomon (gest. in Mainz am 11. Juni 2020)

Hermann Salomon erklärt seine Speersammlung dem Museumleiter Technik in Mannheim im Jahr 2018

Zum „Fall Jürgen May“  und dem  westdeutschen Boykott der Leichtathletik-Europameisterschaft 1969 in Athen

Baumgärtner: Herr Prof. Salomon, Sie waren vielfacher Deutscher Meister  im Speerwerfen und auch in dem seit 1974 nicht mehr durchgeführten leichtathletischen Fünfkampf. Im Speerwurf nahmen Sie  von 1960 bis 1968 dreimal an Olympischen Spielen teil, sowie 1962 und 1966 an den Europameisterschaften. Ihre Bestweite von 83,48 m erzielten sie am 22. Juni 1968 in Paris – Deutscher Rekord!  Im Folgejahr 1969 standen die Europameisterschaften in Athen an. Mit welchen persönlichen Zielen reisten Sie nach Athen?

Salomon: Für mich war erstmal wichtig, bei den Europameisterschaften 1969 in Athen dabei zu sein. Meine Zielvorstellung war an für sich nicht übertrieben. Ich wollte unter den besten zwölf sein. Den zwölften Platz hatte ich ja bei den Olympischen Spielen quasi abonniert, damals in Rom, Tokio und Mexico City. Ich war ein auslaufendes Modell, bin aber gerne hingefahren, weil ich der erste gewählte Athletenvertreter des DLV und damit im DSB war. Für die Leichtathletinnen war es Ingrid Mickler-Becker. Dadurch war ich verpflichtet, das Team mit zu begleiten. Die Qualifikation hatte ich geschafft und war somit in Athen mit dabei, aber nicht mehr mit ganz so großen Zielvorstellungen. 

Baumgärtner: Sie waren zusammen mit Frau Mickler-Becker die Mannschaftssprecher der DLV-Mannschaft. Wie kamen Sie zu diesem Amt?

Salomon: Es ging nach 1968 die Diskussion los, speziell auch unter den Athletinnen und Athleten, dass man bei Entscheidungen des Verbandes mehr Mitspracherecht haben wollte. Dies wurde dann auch mit Vertretern des Verbandes diskutiert. Im Herbst 1968 wurde dann entschieden, dass es eine Wahl geben soll. Daraufhin hatten sich einige zur Verfügung gestellt und es wurde demokratisch gewählt. Wer dabei die meisten Stimmen hatte, war dann eben der erste offizielle Athletensprecher oder die erste offizielle Athletensprecherin. Wir hatten dann damals schon gelästert, jetzt haben wir viel zu tun und werden erstmal etwas aufräumen. Das war aber nicht böse gemeint. Keiner hatte damals gedacht, dass wir schon im nächsten Jahr den DLV-Präsidenten Max Danz ablösen würden. 

Baumgärtner: Hatten Sie in Bezug auf Jürgen May eine Vorahnung, dass es zu Problemen kommen könnte?

Salomon: Nein,  hatten wir auf keinen Fall. Jürgen May war auch bei mir Sportstudent an der Uni Mainz gewesen. Daher kannte ich ihn sehr gut.  Wir wussten, dass er in der DDR sehr stark gefördert worden war. Er war Weltrekordler (1000 Meter) und ein sehr guter 5000-Meter-Läufer.

Für uns war eigentlich klar, der ist jetzt schon lange genug im Westen. Wir wussten nicht, wie viele Jahre die Paragraphen des Europäischen Leichtathletik-Verbandes das verlangten, aber wir wussten, bzw. haben mitbekommen, dass er im Sommer bei den Erdteilkämpfen als Läufer für Europa aufgestellt war. Das war für uns praktisch die Entscheidung: Der läuft für Europa und dann ist er natürlich auch bei den Europameisterschaften im September dabei! Das war ganz normal. 

Baumgärtner: Wann und wie erfuhren Sie bzw. die Mannschaft, dass Jürgen May nicht auf der Starterliste stand?

Salomon: Das habe ich noch sehr genau in Erinnerung. Ingrid Mickler-Becker und ich standen zusammen mit dem Sportwart Heinz Fallak im Flugzeug.   Dieser hat uns dann auf dem Flug nach Athen informiert, dass da etwas im Gange sei und es zu Schwierigkeiten beim Startrecht von Jürgen kommen könnte. Aber Fallak sagte, wir werden das lösen und er meinte auch, dass DLV-Präsident Dr. Danz das schon schaffen würde und Jürgen starten dürfte. Das war die erste Information und wir waren nicht so sehr beunruhigt, weil wir dachten, das läuft. Er war ja zuvor auch schon in der Europa-Auswahl gestartet und daher dachten wir, das wird kein Problem werden.

Baumgärtner: Wie kam es zu dem Entschluss der Mannschaft, die Wettkämpfe zu boykottieren? Wer waren die Meinungsmacher innerhalb der Mannschaft?

Salomon: Erstmal, ich weiß gar nicht genau, welche Information wir hatten. Nur es kam dann irgendwann vom Sportwart die Aussage: Jürgen May darf nicht starten. Man hätte protestiert, aber der Europäische Leichtathletik-Verband würde ihn auch nicht zulassen. Da haben wir gesagt: So geht das ja nicht! Und dann haben wir uns zusammengesetzt, Ingrid Mickler-Becker und ich. Wir wollten das nicht alleine tragen. Später habe ich schon gemerkt, dass wir manchmal angeschossen worden sind, weil man meinte, wir beiden wären die führenden Meinungsmacher gewesen. Wir haben dann zu Hilfe genommen, den Zehnkämpfer Joachim Walde, die Diskuswerferin Liesel Westermann und -ich meine- den 400-Meter-Läufer Martin Jellinghausen. Wir bildeten dann den Fünfer-Rat, weil wir sagten, wir müssen jetzt etwas mehr in der Mannschaft rumhorchen. Und das waren Leute, die sehr erfahren waren. Und dann haben wir gesagt, wir setzen uns mal zusammen mit der Fragestellung: Was machen wir? Und da wurde dann entschieden, dass  wir der Mannschaft vorschlagen werden, darüber abzustimmen. Ja oder Nein. Und das war an für sich sehr demokratisch. Es wurde niemand gezwungen, sondern es wurde angedeutet, wurde dann vorgetragen und dann hat es die Mannschaft auch gebilligt 

Baumgärtner: Stand der Präsident des DLV, Dr. Max Danz, zu Recht im Zentrum der Kritik?

Salomon: Das ist keine sehr leichte Frage. Ich persönlich glaube: ja. Ich kannte den Dr. Danz schon seit den 50er-Jahren. Ich hab ja schon 1958/59 Länderkämpfe mitgemacht und kannte ihn sehr gut. Ich habe auch seine Entwicklung gesehen. Er war ein sehr engagierter Mann, der auch selbst Leichtathlet gewesen war. Er war als 800-Meter-Läufer Olympiateilnehmer 1932. Er hatte sich dann später trotz seiner Arzttätigkeit sehr im Deutschen Leichtathletik-Verband engagiert. Aber, das ist jetzt meine Auffassung und ob ich da Recht habe, weiß ich nicht. Meiner Ansicht nach hat er zu viele Ämter übernommen. Er war Präsident des Leichtathletikverbandes, im internationalen Bereich tätig und hatte nach unserer Auffassung, nach der Auffassung der Athleten,  so ein bisschen die Distanz zu den Athleten verloren. Und ich glaube, er konnte auch nichts damit anfangen, dass jetzt auf einmal zwei Athleten mit im DLV-Vorstand saßen und mitentscheiden konnten. Das ist meine Vermutung. Er hat dann auch sehr wahrscheinlich aufgrund seiner „Freundschaften“ mit anderen Offiziellen und Funktionären, auch der DDR, seine Einflussnahme überschätzt. 

Baumgärtner: Wie hätte er ihrer Meinung nach reagieren sollen?

Salomon: Eins hätte sein müssen und das hat er nicht gemacht: Sofort mit der Mannschaft sprechen, also in Athen, als wir dann dort die Probleme so ein bisschen erkannt hatten. Und er hat auch Ingrid Mickler-Becker und mir gegenüber nichts geäußert. Der einzige, der was gesagt hat, war Sportwart Heinz Fallak. Aber er hat sich zurückgezogen und man munkelte, er wird das schon schaffen.  Lord Exeter, der Präsident des Europäischen Leichtathletik-Verbandes,  war damals angeblich sein Freund und man glaubte, Max Danz würde das schon schaukeln und Jürgen May könne starten. Es wurde vielleicht ein bisschen leicht genommen. Aber ich sage es mit Vorsicht, denn die Bedingungen waren schon sehr schwierig, weil eben Osten und der Westen als zwei politische Systeme  da waren. Da wollten dann bestimmte Leute mit Sicherheit in den Vorstand gewählt werden und jetzt weiß man nicht, welche Absprachen bei den Funktionären daher durchgeführt wurden. 

Baumgärtner: Warum glaubte Danz, eine solch hochpolitische und brisante Affäre geheim halten zu müssen?
Salomon: Das haben wir uns auch gefragt. Das wussten wir nicht. Wir haben dann vermutet und so waren auch ein bisschen seine Aussagen, dass er das etwas leicht genommen hat. Mit seinen Freunden aus dem Westen, die Funktionäre haben ja dann doch etwas zusammengehalten, glaubte er, wir schaffen das schon. Aber ich bin sicher, dass der Ostblock massiv dagegen war und wir haben damals auch vermutet, dass es auch um Wahlen in internationale Leichtathletik-Gremien ging. Und man brauchte bei solch einer Angelegenheit auch die Stimmen des Ostens und nicht nur des Westens. Wir haben das dann laufen lassen und versucht,  das Problem von Seiten der Athleten zu lösen. 

Baumgärtner: In einem  Artikel der „Zeit“  aus dem Jahr 1969 ist die Beschreibung der bundesdeutschen Funktionäre  als „gutgläubige Dilettanten“ gegenüber politischer Generalstabsarbeit von professionellen Funktionären  der DDR zu entnehmen. Würden Sie dieser Beschreibung zustimmen?
Salomon: Ein bisschen schon. Ich glaube, dass einige das sehr leicht genommen haben und nicht so den Überblick hatten. Andere haben sich zurückgehalten, aus welchen Gründen auch immer.  Der DLV-Sportwart Heinz Fallak war damals sehr angesehen und dem haben wir mehr vertraut. Wir bekamen ja sonst keine Hilfe. Die Offiziellen, die uns angesprochen haben, meinten,  wir seien auf dem richtigen Weg. So haben wir es jedenfalls empfunden.“Ihr als Sportler könnt das eventuell schaffen. Wir als Funktionäre schaffen es nicht!“

Obwohl einige auch gewarnt haben: Macht das nicht, genießt die Zeit, es ist toll hier im Hotel am Strand. Genießt Athen und die Meisterschaften! Aber wir hatten da genügend zu tun.
Baumgärtner: War das Athleten-Votum pro Boykott auch eine klare  Misstrauensäußerung gegenüber der Führung?

Salomon: Das habe ich am Anfang gar nicht so empfunden. Wir waren ja auf einmal sehr auf uns allein gestellt. Und uns wurde es ja überlassen, Ingrid Mickler-Becker und mir, dazu der Fünferrat, den wir ja dazu gebildet hatten und noch einige weitere Athleten, die dann mit mir informiert waren, sodass wir das gar nicht so mitbekommen haben. Dann hatten wir  aber auf einmal alles auf unseren Schultern. Das wir also die Sitzung mit dem Vorstand des Europäischen Leichtathletik-Verbandes mitmachen mussten und ziemlich allein gestellt waren. Denn da war der Ostblock zusammen, der Westen war zusammen, und alle saßen am großen Tisch. Es wurde aber immer gesagt, es habe niemand offiziell Protest eingelegt, das läuft einfach so. Aber wir haben dann dort die Vermutung gehabt, dass aus dem Ostblock ein Protest gekommen sei. Ich meine ihn auch gelesen zu haben. Ich hatte etwas Kreuzprobleme vom langen Sitzen und bin dann mal so rumgegangen und habe auf einige Blätter geschaut. Und da ich Englisch studiert hatte, habe ich dann auf einmal gesehen, aha, da ist doch eine Art Boykott oder ein Hinweis auf eine Sperre von May. 

Baumgärtner: Die Führung hatte versagt. Wie kam es zu der Entscheidung als Mannschaft zu handeln und aktiv zu werden?

Salomon: Da gab es auch wieder ein Problem. Die internationale Funktionärsriege haben versucht, das haben wir aber gar nicht so gemerkt, uns so ein bisschen aufs Glatteis zu führen, indem sie uns beschäftigten. Dann haben sie versucht, kurz vor dem ersten Start, und das waren -glaube ich- die 400-Meter Hürdenläufer, uns in Sitzungen zu beschäftigen.  Und das fiel uns auf und dann haben wir gesagt, jetzt müssen wir entscheiden. Die 400-Meter-Hürdenläufer waren ja schon draußen im Stadion! Und dann haben wir gesagt, jetzt müssen wir den Rest der Mannschaft zusammenbringen. Daraufhin kam es ja zu der ganz knappen Entscheidung für einen Boykott. Aber es gab keine laute Gegenstimme. Wir waren ja beschäftigt und betroffen und haben dann diese Entscheidung hingenommen und verkündet. Dann wurden die 400-Meter Hürdenläufer, die waren ja nicht dabei und vielleicht hätte es mit ihnen anders ausgesehen, informiert, dass sie nicht starten. Die waren ja schon beim Einlaufen. Wir waren ja keine erfahrenen Leute in solch politischem Handeln, die Funktionäre waren da anscheinend doch etwas gewiefter und haben es auf diese Weise versucht, uns an den Start zu bringen. Und dann haben wir gesagt: Nein! Und das haben dann auch die 400-Meter Hürdenläufer mitbekommen und sind dann nicht angetreten, obwohl sie schon eingelaufen waren. 

Baumgärtner: Seit Mexiko war den Aktiven eine Mitbestimmung zugesprochen. Hier praktizierten sie eine Alleinbestimmung. Wie fühlten sie (die Mannschaft) sich dabei? Beschreiben Sie die Stimmung innerhalb der Abstimmungsrunden. 

Salomon: Ich war an für sich erstaunt, wie diszipliniert diese Gruppe reagiert hat. Wir waren ja über 70 Athleten, und wie sie das hingenommen haben. Es waren ja viele betroffen, die eine Medaille hätten gewinnen können und dafür jahrelang trainiert haben. Und auf einmal stehen wir vor dem Problem: Starten oder Nicht-Starten. Und dann wurde natürlich auch in kleinen Gruppen diskutiert und dann gab es eben diese geheime Abstimmung und da hat jeder das erstmal  hingenommen. Obwohl ich dann Jahre später öfters angesprochen worden bin: Du warst Schuld, dass ich keine Medaille machen konnte! Weil man meinte, ich war der Sprecher, Ingrid Mickler-Becker war es natürlich auch, und wir hätten das alles so getrickst. Aber wir haben dann wirklich auch gesprochen mit der Mannschaft und diese Entscheidung mit der Mannschaft so getroffen.  Also Abstimmung ja, man hätte ja auch sagen können: Wir stimmen nicht ab! Und dann haben wir auch das Für und Wider diskutiert und dann war eben die Mehrheit für einen Boykott und auch dafür, gleich nach Hause zu fliegen Aber das klappte dann nicht so schnell, weil kein Flugzeug zur Verfügung stand. Deswegen mussten wir in Athen bleiben. 

Baumgärtner: War es ein Fehler, die Boykottentscheidung allein den Athleten zu überlassen?

Salomon: Nein! Ich bin immer noch der Meinung, das war genau das Richtige. Wir haben irgendwann mal gesagt: Warum hat der Sportwart nicht mehr mit uns gesprochen? Wie gesagt, von dem wussten wir sehr viel Gutes und der hatte auch Anerkennung bei der Mannschaft und ich bin sicher, wenn der was gesagt hätte in Richtung kein Boykott, dann wäre die Abstimmung vielleicht anders ausgegangen und die Athleten wären gestartet. Aber er hat sich zurück gehalten und ich weiß heute noch nicht, aus welchen Gründen er das gemacht hat und ich hab auch nie danach gefragt weil das eine vielleicht etwas zu private Frage gewesen wäre. Auf jeden Fall waren wir Athleten dann von allen alleingelassen oder wurden von einigen wenigen ermuntert: Macht so weiter!

Baumgärtner: Wie war die Reaktion der Athleten? Der Boykott bedeutete für viele Verzicht und Opfer. Konnten gerade die jungen Athleten begreifen, um was es ging?

Salomon: Da bin ich nicht so sicher, da wir nicht mit Einzelpersonen so intensiv gesprochen hatten. Ich bin sicher, dass viele Athleten, die eine Chance hatten, eine Medaille zu machen, uns gegenüber schon etwas voreingenommen waren. Aber ich weiß ja nicht, wer da wie abgestimmt hatte. Das wussten wir ja nicht, da es eine geheime Abstimmung war. Die Jüngeren in der Mannschaft, die waren -glaube ich- mehr betroffen. Das war ja ungewöhnlich, dass eine Mannschaft dasteht und das bestimmt. Denn da muss ich jetzt wiederholen, die Funktionäre haben sich zurückgehalten. Einige haben uns ermuntert und gesagt: Macht weiter so, das ist gut, das ist richtig für West-Deutschland. Und der Ostblock, die Athleten waren sprachlos. Ich kannte viele, weil ich ja ein älteres Modell war, die sagten: Wie könnt ihr das machen? Das könnten wir nie machen! Das wär ja für uns undenkbar! Wo würden wir landen? Und ich habe dann gesagt: Ja, wir können das! Nur wir Sportler waren da alleingelassen. Die Funktionäre, und das ist auch heute noch in meinem Kopf, haben sich da zurückgehalten oder vielleicht waren sie auch dagegen, dass wir boykottierten. 

Baumgärtner: Wie kam es zu der Entscheidung an den Staffelwettkämpfen teilzunehmen?

Salomon: Da habe ich erst von Norbert Müller vor ein oder zwei Jahren richtig mitbekommen, was da passierte. Wir saßen mit einer Mannschaftsgruppe zusammen und dann kam der Präsident des Olympischen Komitees der Griechen und sagte, er hätte eine schlechte Nachricht für uns. Es wird jetzt diskutiert, die Olympischen Spiele in München euch wegzunehmen, wenn ihr boykottiert. Dann saßen wir da und uns fiel praktisch alles auf den Boden. Die Münchner Spiele weg? Dann haben wir überlegt, was können wir machen. Wir können jetzt den Boykott aufheben, aber das können wir eigentlich auch nicht. Und dann haben wir diskutiert. Und dann, ich weiß nicht, wer das vorgeschlagen hat, die Staffeln starten lassen als ein Zeichen für den Sport, für einen vernünftigen Sport, und wir anderen halten zurück. Dann kam wieder sie Abstimmung und dann wurde dafür eben wieder eine Mehrheit gefunden, dass eben die Staffeln als Zeichen des guten Willens für den Sportbereich starten sollen. Aber keine leichte Entscheidung. Das war schon eine herbe Stunde 

Baumgärtner: War der Boykott ein Fehler, da der deutsche Sport nun allein durch die DDR vertreten wurde?

Salomon: Ich weiß nur, dass wir sehr häufig lobend angesprochen worden sind, nämlich dass wir das durchgestanden hätten und dass wir das erstmals gezeigt hätten, dass es auch „mündige Athleten“ gibt in diesem Ausmaß. Und ich glaube, da war auch viel dran. Es gab keinen Streit und keine bösen Worte. Wir waren ja mehrere Tage noch zusammen mit der Mannschaft und haben gesehen, wie die Staffeln gut gelaufen sind. Es gab keine bösen Worte. Jedenfalls ich habe das nicht mitbekommen, vielleicht haben ja einige untereinander geschimpft. Aber das war eine erstaunliche Situation, dass das dann so positiv hingenommen wurde. Wie gesagt nicht bei allen bin ich mir sicher und das wäre auch unnormal, wenn da alle gestrahlt hätten. Es war schon eine sehr ernste Angelegenheit.

Baumgärtner: War die Sperre für Jürgen May nicht nur Rache an einem „Republikflüchtling“,  sondern auch eine Warnung an alle anderen Sportler der DDR: Wer uns verlässt, darf bei den Olympischen Spielen in München nicht antreten!

Salomon: Ja, da haben Sie jetzt einen schönen Satz gesagt. Es ist angesprochen worden. Auf die Idee bin ich erst gar nicht gekommen, obwohl das bei mir im Kopf war. Ich wusste durch einige Gespräche bei anderen Europameisterschaften, da ich dann doch ein bisschen Kontakt hatte mit manchen Ostblock-Sportlern, dass man so was raus hören konnte.: Welche Sehnsüchte da waren oder was diese Sportler als positiv erkannt haben, manchmal gab es auch negative Stimmen.Und da steckte mit Sicherheit etwas dahinter. Das war die Politik. Man wollte 1972 bei den Olympischen Spielen gut aussehen. Ich meine der Westen wollte natürlich auch gut aussehen, aber der Osten hatte in bestimmten Sportarten wie in der Leichtathletik sehr viel investiert und hatte tolle Athleten, das muss man sagen.  

Baumgärtner: Würden Sie sagen, dass der Gedanke der Selbstbestimmung speziell durch diesen Fall  in den Fachverbänden der Bundesrepublik aufgekommen ist?

Salomon: Ich glaube, der ist verstärkt worden. Vielleicht aber auch gefürchtet worden von manchen die dann sagten: Das geht doch nicht, dass die Sportler ein Mitspracherecht beanspruchen. Die sollen trainieren und sollen Leistung bringen. Aber es gab ja auch Funktionäre, die hatten wir ja auch mit gewählt. Wir hatten danach mit August Kirsch ja einen neuen DLV-Präsidenten. Und wir glauben sogar, also einige mit denen ich gesprochen habe, dass das Jahr 1969 die Weichen gestellt hat bzw. ein Stellwerk war für bessere Bedingungen 1972 bei den Olympischen Spielen. Dass dann die Funktionäre sehr gut miteinander und mit den Athleten gearbeitet haben. Dass das ein Anstoß war, dass man gesagt hat, wir müssen jetzt bei bestimmten Athleten oder bei bestimmten Gruppen Mitbestimmung zulassen. Das da die Zusammenarbeit dann besser wird und nicht nur der „hörige Athlet“ im Vordergrund steht  sondern der Athlet, der mitsprechen kann. Da gab es mit Sicherheit ganz gute Anregungen und die Entwicklung war dann ja bis 1972 und auch weiter sehr ordentlich. 

Baumgärtner: Ilse Bechthold, damals Frauenwartin des DLV,  sagte später  in einem Interview bezüglich des Boykottes: „Die beiden Mannschaftssprecher haben gelitten wie Hunde.“ Trifft diese Beschreibung zu? 

Salomon: Den Satz habe ich noch nicht gehört. Aber das stimmt. Wir haben beide, Ingrid und ich,  zwei Nächte lang praktisch nicht geschlafen und waren tagsüber auch in Betrieb, weil es ja mehrere Sitzungen gab. Und dann war man dauernd unterwegs. Und ich erinnere mich nur, dass ich dann eine Stunde mal Zeit hatte, ins Meer baden zu gehen und konnte mich da etwas erholen. Aber das war wirklich für Ingrid und mich eine echte Leidenszeit. Obwohl wir das nicht so empfunden haben. Sondern wir haben um der Sache willen mitgemacht und dann steckt man manches weg. 

Baumgärtner: Wie war die Reaktion von Jürgen May auf den Boykott? Immerhin hatten sich viele Sportler wegen ihm um eine vielleicht einmalige Chance gebracht.

Salomon: Er ist gekommen vor der Abstimmung und hat gesagt: Bitte nicht abstimmen! Ich fahre nach Hause. Und dann haben wir gesagt: Du bleibst hier, wir stimmen ab! Also er hatte es angeboten, dass er von sich aus nicht starten wollte. Und wir waren dann so hart dagegen, dass wir gesagt habe: Nein, du bist ein Teil vom Team und wir gucken jetzt, wie die Abstimmung ausgeht. Und dann durfte er nicht starten und die anderen auch nicht, das heißt außer den Staffeln. 

Baumgärtner: Wie sehen Sie die Entscheidung heute? Hat der Boykott überhaupt etwas bewirkt?

Salomon: Hin und wieder haben wir die Gelegenheit gehabt, mit Leuten zu sprechen, die in Athen dabei waren.  Das war dann aber 30 Jahre später. Klaus Wolfermann ist so ein Fall. Der war damals auf dem aufsteigenden Ast und hätte eventuell schon eine Medaille machen können. 1972 wurde er Olympiasieger. Und einige aus dieser Richtung, also die Medaillenkandidaten von 1969, haben dann gesagt: Das war schon richtig damals! Eine verrückte Sache, aber richtig! Für die Zukunft ist das etwas, was vielleicht auch in anderen Sportarten gemacht wird. Dass man die Athleten mit dazu nimmt, allerdings nicht so extrem wie wir das dann hatten, aber das war ja auch ungeplant bzw. irgendwie durch Funktionärs- Unklugheit entstanden. Aber ich glaube, dass da eine gewisse Grundlage gelegt worden ist und auch für einige Funktionäre der Schrecken da war: Mensch, die Athleten können uns ja ablösen bzw. die können uns entmündigen.

Ich wollte dann 1972 bei den Spielen noch dabei sein und habe dann aber den vierten Platz bei den Deutschen belegt, der dritte deutsche Starterplatz war frei. Zwei oder zweieinhalb Meter fehlten und dann wäre ich auch da dabei gewesen. Ich habe dann die Spiele beobachtet und zugeschaut, was die Deutschen mit Heide Rosendahl, Klaus Wolfermann, Ulrike Meyfarth und der 800-Meter-Läuferin Hildegard Falck u.a. gewonnen wurden. Das war schon toll.

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