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SPIEGEL-Interview mit Professur Güllich

SPIEGEL: Jahrelang arbeitet der deutsche Sport im Auftrag des Bundesinnenministeriums an dem Potenzialanalysesystem, kurz Potas genannt. Mit ihm soll die deutsche Sportförderung des Bundes grundlegend reformiert werden. Verstehen Sie die Formelsammlung von Potas?

Güllich: Die Mathematik dahinter ist nicht schwer. Auch wenn es kompliziert aussieht, es geht um einfaches Zusammenzählen und Dividieren. Nur inhaltlich ist es für mich schwer nachvollziehbar.

SPIEGEL: Warum nicht?

Güllich: Die vielen Haupt- und Unterattribute reichen von der Trainingssteuerung über Gesund-heitsmanagement bis zum Good Governance-Beauftragten, zudem Subanalysen und Gewich-tungsfaktoren. Welches Merkmal warum welches Gewicht erhält, wird aber nirgendwo erklärt. Die Begründungen fehlen.

SPIEGEL: Das grundsätzliche Idee dahinter dürfte klar sein: Das Bundesinnenministerium gibt als Förderer des Spitzensports immer mehr Geld aus, im Olympiajahr 2020 werden es 526 Mil-lionen Euro sein. Gleichsam werden die Erfolge deutscher Sportler immer weniger.

Güllich: Ja, das Ziel scheint klar: Die Bundesregierung und der DOSB wollen den Abwärtstrend bremsen. Potas wird dazu aber kaum beitragen können.

SPIEGEL: Was gefällt Ihnen nicht?

Güllich: Ich gebe Ihnen zwei Beispiele. Bei Potas bekommt ein Sportverband weniger Punkte dafür, dass Trainer für die Athleten zur Verfügung stehen, als für die Dokumentation ihrer Kar-riereplanung. Ein medizinisches Betreuerteam für die Sportler zählt weniger als eine Datenbank ihrer Technikvideos. Wie dadurch das sportliche Potenzial eines Verbandes gesteigert wird, verstehe ich nicht. Außerdem werden vor allem Konzepte bewertet, also Absichten, nicht das tatsächliche Handeln des Sportverbandes.

SPIEGEL: Wenn man sich die 96 Seiten des Potas-Leitfadens durchliest, bekommt man schon den Eindruck, als würden gezielt neue Medaillen geplant.

Güllich: Das stimmt, das Konzept suggeriert die Planbarkeit sportlicher Erfolge. Das Problem ist: Die Wissenschaft hat immer wieder gezeigt, dass man sportliche Erfolge nicht planen kann.
Jetzt sollen die Trainer sogar mehrjährige Erfolgsprognosen für den einzelnen Nachwuchssportler
abgeben. Das ist unseriös.

SPIEGEL: Das Sportsystem der DDR widerspricht Ihrer These. Dort wurden sehr wohl Medaillengewinner
gezielt herangezüchtet.

Güllich: Aber um welchen Preis? Denken sie nur an die Repressalien und Dopingopfer. Ich kann verstehen, dass nach der Wende viele westdeutsche Funktionäre eine große Sehnsucht nach solchen Top-Down-Modellen hatten und versucht haben, das System zu kopieren. Das hat den deutschen Sport um viele Jahre zurückgeworfen.

SPIEGEL: Inwiefern?

Güllich: Weil man geglaubt hat, man müsse Talente frühzeitig erkennen und sie schon in jungen Jahren in Zentren konzentrieren und in Förderprogrammen sozusagen behandeln. Aber mit den ineffizienten Methoden der Planwirtschaft entwickeln sich insgesamt weniger Weltklasseathleten. Nehmen sie als Gegenbeispiel den Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler: Der war bis zu seinem 16. Lebensjahr Dreispringer. Der neue Ruder-Weltmeister Oliver Zeidler war bis vor drei Jahren Schwimmer. So sehen viele Karriereverläufe aus. Die ganze Welt beneidet Deutschland um sein einzigartiges Vereinssystem. Das sollten wir besser nutzen in einem kollektiven Förderansatz. Aber Maßnahmen für die Vereine tauchen kaum in den Förderprogrammen auf.

SPIEGEL: Die Potasreform gibt vor, Auswüchse im Sport wie Doping zu berücksichtigen und zu bekämpfen. Erkennen Sie Fortschritte?

Güllich: Good Governance, Prävention gegen sexuelle Gewalt und gegen Doping sind wichtig. Nur sollten sie meiner Meinung nach Voraussetzung zur Förderung eines Sportverbandes sein, nicht Gradmesser zur Schätzung seines Erfolgspotenzials. Beide Bereiche sollten wir nicht vermengen.

SPIEGEL: Man hat aber schon den Eindruck, dass die Gesellschaft immer weniger akzeptiert, dass Millionen von Steuergeldern in einen Sport gepumpt werden, der durch Skandale und Kommerz geprägt wird.

Güllich: Das stimmt, und ich denke, dass der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizere genau dies mit Potas bezweckt hat: Er hielt es wohl für notwendig, dem Sport mehr Geld zu geben. Gleichzeitig sah er sich Kritik an dem Fördersystem ausgesetzt. Potas soll der Politik nicht zuletzt zur Legitimation der Spitzensportförderung dienen.

SPIEGEL: Warum gehört ihrer Meinung nach der Kampf gegen Doping nicht in ein Programm zur Sportförderung?

Güllich: Es gibt wirksamere Methoden, um Spitzensportler zu saubererem Sport zu bringen. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften gibt es Geldprämien für Medaillengewinner. Werden diese nachträglich des Dopings überführt, müssen sie das Geld nicht einmal zurückzahlen – ein Unding, weil dopende Athleten kaum ein finanzielles Risiko eingehen. Außerdem wird immer noch nicht transparent gemacht, welcher Athlet wie oft und von wem getestet wird. So kann es geschehen, dass ausgerechnet Usain Bolt im Jahr seines 100-Meter-Weltrekords außerhalb der Wettkämpfe nur einmal getestet wurde und das von seinem Leibarzt. Transparenz für den Zuschauer und wirtschaftliche Risiken für den Athleten sind wirksamer als Erziehungsprogramme und moralische Apelle.

SPIEGEL: Früher ließen die mächtigsten deutschen Funktionäre ihre Muskeln spielen und holten auf diese Weise beim Bund das meiste Geld für ihre Verbände heraus. Jetzt verspricht die Reform Transparenz. Wird das eingehalten?

Güllich: Das bleibt abzuwarten. Der Preis für diese versprochene Transparenz ist jedoch enorm, weil die Verbände durch das neue System in Bürokratie ersticken. Ich kenne die Verhältnisse im Leichtathletikverband. Dort mussten einige Mitarbeiter für Monate abgestellt werden, um alle Daten und Dokumente zu erstellen. Ich behaupte, dass manche Verbände, die durch Potas mehr Geld bekommen, unterm Strich dennoch draufzahlen, weil ihre Kosten zur Bedienung von Potas höher sind als ihr Gewinn an Förderung.

SPIEGEL: Ende November überraschte der erste Bericht über die Sommersportarten: den ersten Platz im Potassystem belegte der Badmintonverband, der international bisher kaum etwas vorzuweisen hat. Auf dem letzten Platz lagen ausgerechnet die Ruderer, die bei Olympischen Spielen traditionell zu den erfolgreichsten Medaillensammlern zählen.

Güllich: Retrospektiv betrachtet müssen die Sportfachverbände für Reiten, Kanu oder Rudern effektiv gearbeitet haben, sonst hätten sie nicht so viele Titel gewonnen. Jetzt wird einigen Verbänden wie dem für Badminton eine gute Verbandsstruktur bescheinigt und das soll ihr Erfolgspotenzial bei den Olympischen Spielen abbilden. Ich kann zwischen einer Potas zufolge guten Verbandsstruktur und dem Gewinn von Medaillen keinen Zusammenhang erkennen. Ob ich mich irre und Potas die Sportverbände doch richtig bewertet, wird sich daran zeigen, ob Badminton bei den Olympischen Spielen Kanu, Rudern und Reiten übertrumpft.

SPIEGEL: Wenn Potas wirklich so unwirksam ist, wie Sie es beschreiben – wie lange wird es sich halten?

Güllich: Die Sportförderung wird normalerweise etwa alle acht Jahre reformiert. Das würde ich für Potas ebenfalls erwarten.

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